Nationalismus revisited – Teil 4

Der Identitäre überwindet also mit dem Universalismus auch die Ideologie des Nationalismus. Er durchschaut ihn in seiner „biologischen“ sowie seiner „staatlichen“ Form als „Nationalisierung“ des Universalismus. Es wechselt immer nur der Inhalt, aber nicht die Systematik und Struktur. Er äußert sich nach außen mit missionarischem Erlösungswahn, fanatischem Imperialismus, rassischem und kulturellem Chauvinismus und nach innen mit Vereinheitlichung, totaler Mobilmachung, Zentralisierung und Totalitarismus.

XI. Die Frage nach dem Sinn

Der Identitäre erkennt, dass der Nationalismus nur eine bestimmte, vom Universalismus geprägte Bezugnahme auf die ethnokulturelle Identität ist, welche die eigentliche verstellt, verzerrt und verkrüppelt. Herkunft und Heimat sind die unhintergehbaren Grundlagen des Daseins, in die jeder Mensch ebenso geworfen ist, wie in seine Körperlichkeit, seine Familienzugehörigkeit. Jede Suche nach Sinn und jede Frage nach Wahrheit geht immer von diesem Boden aus – und jedem Fragenden antwortet und zeigt die Welt sich anders. Jede Sicht nimmt die Welt anders wahr. Doch die Frage nach Sinn lässt sich nicht einfach mit der faktischen Existenz des Volks und seinem Dasein umfassend beantworten. Nur damit, dass es unser Volk gibt und wir sein Leben erhalten wollen, ist keine Sinnfrage beantwortet. Dieser Wahn tritt erst mit dem modernen Nationalismus auf – unsere Vorfahren kannten ihn zu keiner Zeit. Es ist wie Dostojewski schreibt:

„Denn das Geheimnis des Menschenlebens liegt nicht im bloßen Dasein, sondern im Zweck des Daseins. Ohne feste Vorstellung wozu er leben soll, wird der Mensch gar nicht leben wollen,…“

Das Dasein fragt sich notwendig nach dem eigenen Sinn, der nicht allein in der nackten Daseinserhaltung selbst liegen kann. Denn wäre diese der einzige Sinn, dann könnte eine derartige sinnlose, „selbstkritische“ Frage gar nicht aufkommen können. Wir erleben es aber in Sinnkrisen ständig am eigenen Leib. Wir wollen mehr! Diese Überlegungen führen hier zu tief und zu weit. Sie zeigen aber, dass für uns die Frage nach Wahrheit und Sinn keine ausgemachten, abgehakten Tagesordnungspunkte sind, die man in irgendwelchen Schulungsblättern nachlesen kann. Man kann diese tiefen Fragen nicht einfach allesamt mit „das Volk“ beantworten.

Heidegger bringt es so auf den Punkt: Man will sich nicht eingestehen, dass man keine Ziele hat. Die „Mittel für die Zielaufrichtung und Verfolgung“ werden „selbst zum Ziel hinaufgesteigert: das Volk z.B.“1

Er schreibt weiter:

„Erhaltung des Volkes ist nie ein mögliches Ziel, sondern nur Bedingung einer Zielsetzung. Wird die Bedingung aber zum Unbedingten, so kommt das Nichtwollen des Ziels, das Abschneiden jeder ausgreifenden Besinnung zur Macht.“²

Wir stellen die Frage nach dem Sinn neu, wir setzen sie in gebotener Höhe an, aber wir vergessen dabei nicht auf ihre ethnokulturelle Tiefe; auf: Herkunft, Heimat und Kultur. Der Universalismus ist der Versuch, diese Frage, die „ausgreifende Besinnung“ mit einem ewigen und exklusiven „göttlichen Gesetz“ oder einseitigen, materialistischen „Naturgesetz“ zu beantworten. Der Nationalismus ist die – im Endeffekt biologistische – subjektivistische und zutiefst moderne Version des Universalismus, in der das eigene Volk als metaphysische „Nation“, als absoluter, „reiner“ und zeitloser und weltferner Wert gesetzt und aus dem Zeitenstrom gerissen wird.

Ein Identitärer erkennt, dass sein Volk in einen größeren Zusammenhang, einen ganzen Kosmos eingebettet ist. Er überträgt nicht den Egoismus und die Kurzsichtigkeit des Liberalismus auf ein „Volkssubjekt“, er sieht das Ziel nicht darin, auf Kosten anderer zu expandieren, andere auszubeuten und mit allen Mitteln die eigene Macht zu vergrößern. Er erkennt als wahre Aufgabe die Vervollkommnung des eigenen Wesens. Das ist gleichzeitig die Frage nach dem eigenen Wesen, nach Sinn und Wahrheit, die jeder Mensch und jedes Volk für sich beantworten muss. Sein Volk ist kein „Urvolk“, das reiner, besser oder „völkischer“ als andere Völker ist. Er verlangt keine Vorrechte und Sonderrechte gegenüber anderen. Er vertritt aber stolz und selbstverständlich die eigenen Interessen, den eigenen Standpunkt in einer dynamischen Welt der Spannung.

Das eigene Volk ist für ihn nicht die einzige und absolute Quelle von Wahrheit, Werten und Moral. Die eigene Kultur ist keine absolute und endgültige Weltdeutung. Sie ist nicht das „Wesen“, an dem die „Welt genesen“ muss; keine unbedingte „zivilisatorische Mission“ ist an sie geknüpft. Die eigene Identität steht in ihrer Vielfalt und Tradition für sich und soll unverfälscht erhalten und undogmatisch weitergeführt werden.

Der Nationalist liebt seine Herkunft und Kultur niemals wirklich um ihrer selbst willen und als das, was sie ist. Sie ist für ihn letztlich immer eine Krücke, ein Ersatzobjekt für die universalistische Wahrheit und eine dogmatische Sperre gegen die Aufgabe, immer wieder neu nach Sinn und Wahrheit zu suchen. Der Identitäre erkennt, dass mit der Tatsache, dass er zu einem Volk gehört, dass er zu ihm steht und es erhalten will, noch nicht alles über sein Leben ausgesagt ist; dass seine Heimat und sein Volk unabdingbare Aspekte seiner Identität sind, dass diese sich aber nicht vollkommen in ihnen erschöpft. Er kämpft heute mit voller Kraft um den Erhalt seiner ethnokulturellen Identität, weil sie wie noch nie bedroht ist, nicht aber, weil er „neurotisch“ auf sie fixiert wäre, weil sie „alles“ und er selbst „nichts“ sei. Nicht er selbst, seine Gegner sind es, die ihm diesen Abwehrkampf aufzwingen. Er selbst will zurück und voran zu einer „neuen, alten“ Selbstverständlichkeit von Heimat, Herkunft, Bewahrung des Eigenen und Achtung des Anderen.


XII. Ein Fazit

Bevor ich diesen langen, aber hoffentlich anregenden Text abschließe, möchte ich das bisher Gesagte noch einmal kurz zusammenfassen: Wir sind von einem diffusen Nationalismusverständnis ausgegangen, das sowohl im rechten Lager als auch auf Seiten der Gegner herrscht. Nationalismus wird dabei als provokanter Überbegriff für einen „3. Weg“ und eine 3. politische Theorie gebraucht und meint vor allem die Hinwendung zur eigenen Herkunft und die Ablehnung von Marxismus und Liberalismus. Gleichzeitig trat diese Hinwendung zum Eigenen in der konkreten Ära des „Nationalismus“ aber fast immer mit größenwahnsinnigem Chauvinismus, pseudoreligiösem Auserwähltheitswahn und hasserfüllter Abgrenzung gegen die Nachbarvölker auf. Wir sahen auch, dass die politischen Folgen dieser Ära der Ideologien, zu der auch der Nationalismus gehört, klare Unterschiede zu einer „kämpferischen Daseinserhaltung“ der Vorzeit, wie Weltkriege, gezielte Auslöschungsversuche, etc. aufwies.

Wir haben daher mit einem kritisch-genealogischen Seziermesser in dieses diffuse Gemenge geschnitten und die geistesgeschichtlichen Umstände dieser „Hinwendung zum Eigenen“ unter die Lupe genommen. Wir haben dabei gesehen, dass sowohl staatsbezogener, als auch „volksbezogener“ Nationalismus im Grunde das Volk als Ersatz für den universalistischen Gottesbegriff und das universalistische „Gottesvolk“ missbraucht hatten. Daraus ergaben sich zwei schwerwiegende Mängel des Nationalismus, die auch seine Unterschiede zum identitären Ethnopluralismus ausmachen:
1. die falsche, verengte, statische und abstrakte Vorstellung der eigenen ethnokulturellen Gemeinschaft als „Nation“, die oft die Regionen und Europa ausblendete. 2. der falsche, letztlich egozentrisch-subjektivistische Bezug auf die Nation, die als einzige Quelle von Identität, Wahrheit, Sinn und Ethik herhalten soll und um sich nur Todfeinde hat.

Diese beiden Mängel sind eine klare Erbschaft des westlichen Universalismus, aus dem heraus der Nationalismus selbst als modernes Phänomen erst verständlich wird. Die Verteidiger Spartas waren keine „Nationalisten“, Karl Martell war kein „Nationalist“, Hermann der Cherusker war kein „Nationalist“. Sie alle hatten eine ganzheitlichere Weltsicht, in die der Erhalt der eigenen Tradition und das Bewusstsein der eigenen Herkunft selbstverständlich eingewoben war. Ihre Identität war keine künstliche Abstraktion wie die zentralistische Nation, die sich gleich einem krebsbefallenem Organ aus dem ethnokulturellen Zusammenhang der europäischen Völkerfamilie abspaltet. Selbstverständlich verteidigten sie ihre Herkunft und Tradition auf der Ebene und auf der Front, auf der sie gerade bedroht war, von der Region, über das Volk bis hin zum Großraum.3

Diese Selbstverständlichkeit ging nicht zuletzt aufgrund der Ableitung von Wahrheit und Herrschaft aus fremden und von der ethnokulturellen Identität völlig losgelösten Quellen im religiösen Universalismus verloren. Auch im darauf folgenden dynastischen Absolutismus, in machiavellistischen Konzeptionen war die ethnokulturelle Identität verschüttet und die heiße Sehnsucht, mit der sie im Gefolge der Revolution vom „Volk“ wieder angeeignet wurde, ist durchaus verständlich. Diese Neuaneignung der eigenen Identität und der politischen Herrschaftslegitimation brachte aber mit dem aufklärerischen Nationalismus die oben beschriebene, neue Form der Bezugnahme auf, die wir heute aus identitärer Sicht kritisieren müssen.

Man kann also den Nationalismus nicht nur stückweise mit Schlagworten wie „Chauvinismus“, „Schaffung eines souveränen Nationalstaates“ oder „Integration aller Angehörigen der Nation zur homogenen Gemeinschaft“ beschreiben. Streben nach Gemeinschaft, Unabhängigkeit, kriegerische Auseinandersetzungen verbunden mit Geringschätzung anderer sind immer auch „Nebeneffekte“ des Politischen, das selbst ewiger Aspekt des Daseins ist. Der Mensch ist als Gemeinschaftswesen primär in eine Vielfalt an unterschiedlichen, pfadabhängigen, ethnokulturellen Gemeinschaften eingebunden. Er existiert immer als Angehöriger einer Kultur und ist jenseits von Sprache, Herkunft und Kultur nur als sekundäre Abstraktion denkbar. Diese politische Welt als Pluriversum erzeugt notwendig immer wieder die oben erwähnten Reibungen, Abgrenzungen, Zusammenballungen und Konflikte. Diese als „Nationalismus“ zu bezeichnen, wäre absurd – der Begriff würde total entgrenzt und verlöre jede konkrete Bedeutung. Karl Martell, Leonidas, Hermann der Cherusker, Cäsar und König David würden allesamt zu „Nationalisten“. Ihn auf Phänomene anzuwenden, die vor und unabhängig von der westlich-universalistischen Moderne auftraten, ist eine verfehlte Rückprojektion. Sie dient letztlich nur den Feinden aller Völker zur totalen Verteufelung jeder ethnischen Identität. Sie dient ihnen in ihrer Lüge, das Volk und die Kultur als „abgehakte“ Abschnitte eines universalistischen Fortschrittsprozess darzustellen.

Will man den Nationalismus in seinem Wesen verstehen und erkennen, was ihn als Phänomen vom bloßen „Ethnozentrismus“ – etwa des alten Roms – unterscheidet, so muss man, meiner Ansicht nach, auf den zentralen Aspekt abzielen, der die westliche Geistesgeschichte ausmacht. Man muss ihn in seinem Bezug und in der Erbfolge des Universalismus verstehen und kritisieren. Tut man das nicht, schafft man hier keine Klarheit. Man subsummiert einfach Prinzipien des menschlichen Daseins, das Politische, die geschlichtliche, sprachliche und ethnokulturelle Verwurzelung unter dem Schlagwort „Nationalismus“. Das ist bereits selbst ein universalistischer Akt. Man setzt eine bestimmte Epoche des westlichen Denkens mit einem allgemeinem Aspekt des Menschen gleich. Indem man diese Epoche des westlichen Denkens (Nationalismus) kritisiert und abhakt, will man damit im gleichen Atemzug alle Völker und Kulturen an sich abhaken und abschaffen. Die „Old School“-Nationalisten unterstützen diesen Wahnsinn unbewusst, indem sie sich weigern, eine anti-universalistische Selbstkritik am westlichen Nationalismus zu unternehmen und ihren jeweiligen Fetisch der 3. politischen Theorie als „ewiges Naturgesetz“ aufblasen.

Es ist nichts anderes, als wenn ein Marxist den Spartakusaufstand oder die Bauernrebellionen als „frühsozialistisch“ betrachtet, wenn ein Liberaler die attische Demokratie als Vorform der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung missdeutet oder ein Muslim jede Religion als Verfalls- oder Vorform des Islams beleidigt.

Völker sind ewige Prinzipien des Menschen als Gemeinschaftswesens. Der „Nationalismus“ ist aber nicht das ewige Prinzip und “Naturgesetz“, das „Erhaltung des Eigenen“ aussagt. Ich wiederhole es: Die 300 Spartaner waren keine Nationalisten, Karl Martell war kein Nationalist und auch die Verteidiger von Wien waren keine. Wie haben sie es, die dieses „ewigen Naturgesetz“ noch gar nicht kannten, gar keinen Namen dafür hatten, dennoch geschafft, ihre Heimat zu verteidigen? Ganz einfach: weil es dieses „ewige, zeitlose Gesetz des Nationalismus“ gar nicht gibt. Man braucht keinen, modernen, materialistischen, biologistischen „Ismus“, um die eigene Identität zu bewahren und zu verteidigen. Man braucht das nur, wenn man will, dass die eigene Identität den ideologischen Ansprüchen einer universalistischen Ideologie genügt. Man braucht es also, wenn man primär Universalist ist, der sich eine nationalistische Prägung geben will.

Verblendete Nationalisten waren hingegen die „Hurra-Patrioten“, die im 1. Weltkrieg in Europa aufeinander losgehetzt wurden. Dieser Krieg ist mit seinem Nachfolgekrieg in der bekannten Geschichte einzigartig. Unzählige Großreichkonzeptionen, Pangermanismus, Panslawismus, „mare nostra“, Großpolen, Großungarn, Großserbien, etc. prallten unversöhnlich aufeinander. Hier einen „Guten“, ein „Opfer“, das von „Bösen“ umringt war, zu sehen, ist Selbstbetrug. Nie zuvor hatte sich eine ganze Völkerfamilie derart selbst zerfleischt. Europas Selbstzerstörung in der Ära des Nationalismus stellt einen radikalen Kontrast zum natürlichen identitären Verhalten sonstiger Großräume und Völkerfamilien dar. Die unausbleiblichen Konflikte, Fehden und Differenzen führen niemals zur Selbstzerfleischung und sie ruhen, wenn eine gemeinsame Bedrohung auftaucht.4

Anders im großen „europäischen Bürgerkrieg“, der als einzigartiges Phänomen die These, dass der Nationalismus ein modernes, universalistisches Phänomen ist, unterstreicht. Doch er ist mit einem anderen Ereignis vergleichbar: mit dem 30jährigen Krieg. Auch hier spaltete eine universalistisch-religiöse Frage ein Volk und einen Kontinent, und führte zu einer erbitterten Selbstzerstörung, einer Entmenschlichung des nächsten Nachbarn. Jeder kann nach dem Gelesenen wohl selbst seinen eigenen Schluss für den Nationalismus ziehen. Wir dürfen dabei aber nicht unfair und anmaßend werden.

Mann muss ihm als Phänomen gerecht werden. Man muss seine leidenschaftliche Intentionen, seine teils berechtigten Forderungen anerkennen. Aber man muss ihn als geschichtliches Phänomen, als ideologischen Begriff erkennen, dessen Zeit vorbei ist. Er ist keine „ewige Kategorie“, kein „Naturgesetz“ – er ist eine bestimmte Sichtweise und Bezugnahme auf die ewige Wirklichkeit und ihre Phänomene. Nation ist nicht gleich Volk und Nationalismus ist nicht gleich Erhalt des Volkes. Er ist nur, teils gut gemeinter, aber moderner und mangelhafter Versuch, unsere ethnokulturelles Dasein zu deuten und zu beschreiben. Dieses Verständnis ist die Quintessenz dieses Textes, zu der ich Dir, lieber und ausdauernder Leser, hoffentlich nicht allzu langatmig und wortreich, verhelfen konnte.

 

XIII. Die Notwendigkeit, den Nationalismus zu überwinden

„Wozu dieser lange Text?“ mag sich nun der eine oder andere fragen. Hätte man das nicht kürzer sagen können? Ja, das hätte man. Und oft haben Identitäre das auch schon getan. So wie etwa Fabrice Robert, Leiter des Bloc Identitaire, als er sagte:

„Wir sind keine Nationalisten. Der Nationalismus war ein Drama für Europa“.

Ich vermisste aber bisher in der Identitären Bewegung, vor allem im deutschsprachigen Raum, eine fundierte Kritik des Nationalismus, die über zwei oft geübte Reflexe hinausgeht:

1. Bloße Kritik des etatistischen und liberalen Nationalismus, dem man den völkischen Nationalismus entgegensetzt.
2. Bloß taktische Kritik des Nationalismus, als „derzeit“ schädlich für Europa.

Nationalismus in seiner Entstehung und Bedeutung als universalistisches Phänomen ist in jeder Form und zu jeder Zeit schlecht für Volk und Europa. Wäre „Nationalismus“ hingegen ein bloßes Synonym für die „Erhaltung des Eigenen“, wäre der Begriff erst recht unnötig. Gerade weil er heute negativ beurteilt wird, muss man sich darüber klar werden, was er bedeutet und was nicht. Im allgemeinen Wortgebrauch wird er meist mit „Chauvinismus“ gleichgesetzt. Das ist genauso verkürzt und falsch wie die Gleichsetzung mit „Selbsterhaltung“ im rechten Lager. Wir haben heute aber als Identitäre keinerlei Bedürfnis, dieses allgemeine Verständnis von Nationalismus zu korrigieren und den Begriff zu „retten“.

Dieser Artikel soll ein Denkanstoß sein, dem Konzept des Nationalismus selbst auf den Zahn zu fühlen. Dazu ist es nötig, „ad fontes“, also an die Quellen seiner Entstehung zu gehen, was ich, soweit Raum dafür war, versucht habe. Das Ergebnis ist, dass der Nationalismus in allen Formen das Erbe des Universalismus antritt und eine „partikularistische Version“ davon selbst ist. Das Denken dahinter ist letztlich der moderne Subjektivismus, der Verlust der Mitte und Ganzheit und der universalistische Wahn, einen Aspekt unseres Daseins auf Kosten aller anderen zu totalisieren. Der Identitären Bewegung und dem Ethnopluralismus muss es um die Überwindung dieses Denkens gehen. Es darf nicht nur mit neuen Begriffen und Logos übertüncht werden. Es geht hier nicht darum, anderen zu gefallen oder um abgehobene akademische Debatten. Das nationalistische Denken hat den Völkern Europas schwer geschadet. Es ist mitverantwortlich für den großen, selbstzerstörerischen „Bürgerkrieg“ der Moderne. Heute verhindert es eine gesamteuropäische Besinnung und verbaut mancherorts als 3. Politische Theorie eine gesamteuropäische Verteidigungs- und Identitätsbewegung.

So wie die alten nationalistischen Bewegungen in ihrem Effekt fast immer chauvinistisch, kriegslüstern, imperalistisch und antieuropäisch waren, so taumeln die modernen Vertreter der 3PT wieder in genau denselben Abgrund hinein. Mit schlafwandlerischer Sicherheit wird von den meisten heutigen Bewegungen, die sich als „nationalistisch“ verstehen, irgend eine hinderliche, sinnlos gewordene Erbfeindschaft, irgend ein nutzloser Klotz am Bein mitgeschleppt und mit „Tradition“ verwechselt. Ob es nun die Südtirolversessenheit italienischer Faschisten, das aufgewärmte Trianon-Trauma der Ungarn, der Krisenherd des Ostblocks oder die Mazedonien-Fragen der Griechen sind – der „Old School“-Nationalismus lenkt immer von der wesentlichen Frage ab: Was tun gegen die Kolonisation Europas durch Nichteuropäer?

Er muss das tun, weil er als universalistisches Dogma zu keiner echten Erkenntnis der Wirklichkeit, zu keiner Lagebeurteilung und damit zu keiner adäquaten Reaktion fähig ist. Er hat, wie ich beschrieben habe, erstens ein falsches, schematisches, statisches Verständnis darüber, worum es geht. Er macht aus der dreifaltigen und dynamischen, ewigen ethnokulturellen Identität die moderne Nation. Zweitens hat er einen falschen und gestörten Bezug zu ihr, indem er sie als Ersatzobjekt für den universalistischen Phantomschmerz missbraucht, welchen der „Tod Gottes“ hinterlassen hat.

Der Nationalismus ist nichts anderes als der Versuch, den Nihilismus, der mit dem Untergang des Universalismus heraufgezogen ist, mit der Absolutsetzung eines künstlichen Nationsbegriffes abzuwehren. Er hebt damit Subjektivismus, Werteverfall, Sinnentleertheit und die „Auflösung aller Dinge“ nur auf eine höhere Ebene und stellt sich ihnen nicht wirklich. „Überall kreist der Mensch, ausgestoßen aus der Wahrheit des Seins, um sich selbst (…).“5

Die seinsgeschichtliche Aufgabe einer Identitätsbewegung wird es sein, diese Misere mit unserem Bezug auf Europa nicht einfach auf eine weitere Ebene zu verschieben, also aus Europa eine „große Nation“ zu machen. Dieser Schritt, der im Grunde das maximale Potential des nationalistischen Europa-Bewusstsein darstellt, ist nach wie vor vom universalistischen Denken infiziert. Er würde einen fanatischen Krieg nach außen, Totalitarismus und Vereinheitlichung nach innen, biologistische und darwinistische Betäubungen gegen eine echte Sinnfrage bedeuten. Letztlich würde er damit keine Antwort auf die großen Fragen bedeuten, die heute das ganze Dasein umstellen und es in den Nihilismus treiben. Es geht eben nicht „nur“ um den nackten Erhalt unseres Daseins, für den wir heute eben „zufällig“ europäisch denken müssen. Es geht um die Frage nach dem Sinn unseres Daseins und unser Wissen, dass sie uns als Volk und ethnokulturelle Gemeinschaft aus dem Ganzen heraus gestellt ist.

Identitär zu denken heißt vor allem ganzheitlich zu denken und in diesem Ganzen das eigene Dasein zu behaupten. Die Forderung nach einer Reconquista Europas, der Kampf gegen unseren ethnokulturellen Untergang und gegen die Masseneinwanderung und die metaphysische Landnahme durch den (nebenbei universalistischen) Islam ist nicht zu trennen von den globalen Problemen, dem Kapitalismus, der Umweltzerstörung, der Ausbeutung, der Ungerechtigkeit und der allgemeinen Entwurzelung. Wenn wir für den Erhalt unserer Identität kämpfen, tun wir das nicht „egoistisch“ oder „nur für uns“. Wir, und damit möchte ich zum Schluss dieser Gedankengänge kommen und mich nebenbei, beim ausdauernden Leser für das „Mitgehen“ bedanken, wir kämpfen gegen eine globale Tendenz der Vereinheitlichung, der Entzauberung, Entfremdung und Vermassung, gegen die Vernichtung von Freiheit, Vielfalt, Behausung und Verwurzelung. Diese Tendenz betrifft den gesamten Westen und alle Völker, die er mit seinem Denken verseucht hat.

Wir wollen uns in eine große, richtig verstandene Ganzheit einfügen, in der der Erhalt unseres Volkes und unserer Kultur gerade kein „Egoismus“, kein „Atavismus“, sondern Recht, Pflicht und Würde eines jeden ist. Es ist eine Ganzheit, die das totale Gegenteil zum Internationalismus, zur Menschheit und zum Weltstaat der Moderne darstellt. Unser Raum in ihr, in dem unser Volk und Kultur das klare Zentrum unserer Weltsicht ist, wird von uns behauptet – wir verwechseln ihn aber nicht mit dem Zentrum der Welt an sich. Wir kämpfen gegen den Universalismus und damit auch gegen einen universalistischen Nationalismus.

Das ist eine Tatsache, die ins identitäre Bewusstsein eindringen muss, um letztlich auch im Auftreten nach außen zu dringen. Es äußert sich in jeder Weigerung, den Gegner zu entmenschen und in die billige Hetze mancher Rechten einzustimmen, in der bewussten, wachen und kritischen Übernahme der Tradition, nicht ihrer dumpfen und unterschiedslosen Vergötzung. Vor allem äußert es sich darin, dass wir nach wie vor auf der Suche sind und nicht einmal den Anschein erwecken wollen, dass wir „fertige Antworten haben“. In diesem Sinne ist auch die 4. politische Theorie zu verstehen, die, wie Dugin sagt, kein fertiges Konzept, sondern eine „richtig gestellte Frage“ ist. Diese Frage geht über das Volk hinaus, niemals aber vergisst sie auf das Volk. Wie ein Baum, dessen Äste in den Äther dringen, niemals ohne seine Wurzeln, die tief im Boden verhaftet sind, stehen kann.

Wir müssen mit aller Schärfe gegen die diffuse Vermischung von Heimatliebe, Erhalt des Eigenen, Abgrenzung von Anderem, Bejahung von Grenzen, Werten und Traditionen mit der Ideologie das Nationalismus vorgehen. Dieser diffuse Mischkrug, in dem Ethnopluralisten und Identitäre mit den wüstesten White-Power-Chauvinisten und Alt-NSlern als „Nationalisten“ zusammengefasst werden, ist ein Werkzeug unserer Feinde! Jeder, der sich aus Denk-Faulheit, und weil er „gegen Spaltung“ ist, einer Nationalismuskritik verweigert, dient damit letztlich dem Feind.

Das, was ewig ist, die wehrhafte Erhaltung der eigenen Stellung in der Welt, ist gerade nicht identisch mit dem Nationalismus, der, wie wir gesehen haben, eine vorübergehende Ideologie der Moderne ist. Er ist kein „ewiges Naturgesetz“. Zwar ist seine Reaktion, wie die gesamte Reaktion der 3PT auf Marxismus und Liberalismus verständlich. Doch auch der Freiheitsdrang der Ur-Libertären und die Sehnsucht nach Gemeinschaft der Ur-Kommunisten sind verständlich und es wäre falsch, diese Ideologien als durch und durch bösartig abzutun. Sie alle müssen in ihrer Intention teilweise gewürdigt, aber in ihrer Konsequenz ganz verworfen werden. Dieses Bewusstsein muss gefühlt werden. Es muss sich äußern, denn es geht uns aber auch darum, verstanden zu werden. Unsere große Angst ist auch, frei nach Nietzsche, missverstanden zu werden: „Verwechselt mich vor Allem nicht!“ Wer also identitär denkt, sich aber aus Bequemlichkeit, Rücksicht, Provokationssucht oder falscher Tradition immer noch „Nationalist“ nennt, lügt. Er belügt sich und andere. Er handelt unverantwortlich gegenüber seinem Volk.

Ich appelliere daher auch immer wieder an alle Identitäre, freimütig und offen, ohne Polemik, Begriffsklauberei und Besserwisserei (auch wenn wir es wirklich mal besser wissen) zu bekennen: Ja, wir stehen für den Erhalt unserer ethnokulturellen Identität, gegen Masseneinwanderung, gegen die Lüge von „Menschheit und Weltstaat“, für den Erhalt der Völker, der Wurzeln, der Herkunft und der Heimat, aber NEIN, wir sind KEINE Nationalisten.

Wenn wir damit die starren Schubladen von Liberalen, Marxisten und Nationalisten sprengen sollten, soll uns das nur recht sein. Sie müssen mit uns klar kommen. Wir funktionieren nicht nach ihrem Schema. Sie werden sich an uns anpassen müssen – nicht umgekehrt. Die Universalisten müssen Platz machen und zurückstecken.Sie müssen sich ändern – nicht wir. Ihr System wird fallen, nicht wir.
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1 Martin Heidegger, GA 65, S. 139

2 oa. S. 99

3 Heute, da ein technisches Gestell mit den Möglichkeiten der Massenvernichtungswaffen, der Gentechnik und der Atomenergie, teils das Überleben aller Völker und Menschen überhaupt bedroht, ergibt sich hier für ein identitäres Denken durchaus die Frage nach einer temporären Zusammenarbeit gegen diese Gefahr, die aber niemals die Völker auflösen oder zerstören will. Ist es ja gerade diese Tendenz des Internationalismus und der globalen Vereinheitlichung, die Hand in Hand mit diesen Gefahren geht. Man wird die Menschheit niemals retten, indem man die Völker vernichtet.

Die Rolle von Liberalismus und Marxismus im 2. Weltkrieg bleibt in diesem Artikel außen vor. Sie wird in unseren Zusammenhängen oft genug analysiert. Die Rolle des Nationalismus hingegen bleibt oft unbeachtet. Ich lade jeden Leser zu folgendem Gedankenexperiment ein: Was wäre denn geschehen, wenn es keine marxistische Bedrohung gegeben hätte? Wäre es nicht zu einem zweiten 1. Weltkrieg, zu einer neuen Revanche, zu einem innereuropäischen „Jeder gegen“ mit noch vernichtender, noch brutalerer Kriegsführung gekommen?

5 Martin Heidegger, GA 9, S. 28

Text im Original von Martin Sellner, erschienen auf www.identitaere-generation.info.

Ergänzend zu diesem Text ein Podcast von Martin Sellner: http://martin-sellner.at/2017/04/03/podcast-3-nationalismus-revisited/

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